Niemand sehnt sich mehr nach Frieden als das ukrainische Volk. Niemand leidet mehr unter dem andauernden Krieg als das ukrainische Volk. Täglich verlieren die Menschen dort Angehörige, Kolleg*innen und Freund*innen, beweinen Väter, Brüder und Söhne, verlieren Zivilist*innen ihr Leben. Zu den Toten kommen die Verletzten und Versehrten an Körper und Seele, die Zerstörungen von Städten und Dörfern, die Verwüstungen in Natur und Landschaft, in Industrie und Landwirtschaft. Millionen mussten ins Ausland oder die Westukraine fliehen.
Das alltägliche Leben auf der gesamten Fläche der Ukraine ist in ständiger Bedrohung durch den russischen Raketenterror auf die zivile Infrastruktur. Luftalarme prägen den Alltag ebenso wie Trauerfeiern für die Opfer des Krieges. In jeder Familie hat dieser Krieg an jedem Tag und in jeder einzelnen Nacht eine traumatische Präsenz.
Die Menschen in der Ukraine bedürfen keiner Aufklärung über die Schrecken des Krieges. Ihre Friedenssehnsucht ist existenziell.
In der deutschen Debatte wird mitunter der Eindruck erweckt, dieses Land werde von seiner Regierung gegen dessen Willen zum Weiterkämpfen genötigt. Präsident Selenskyj trage mit unrealistischen Maximalforderungen dazu bei, einen nicht gewinnbaren Krieg in die Länge zu ziehen auf Kosten seines Volkes bzw. ohne sich dessen Einverständnisses zu vergewissern.
Wer die Möglichkeit dazu hat, das Risiko und die Mühe nicht scheut, in die Ukraine zu reisen um dort einige Tage unter ganz normalen Menschen zu sein, wird diesen Eindruck nicht bestätigen können.
Die Ukraine scheint trotz des unermesslichen Leid des Krieges geeint in der Entschlossenheit, dem Aggressor nicht nachzugeben. Dies nicht, weil man dort Fehleinschätzungen der militärischen Lage unterliegt. Überall wird man hoffnungsvoll und drängend auf die Leopardpanzer angesprochen. Denn jeder Tag reißt neue Lücken in die eigenen Kampfmittel. Und natürlich wissen sie, dass diese Panzer keine Gamechanger sind. Aber trotzdem zählt jeder Einzelne.
Die Entschlossenheit speist sich aus der tiefen, leidvollen und intergenerativen Kenntnis des Aggressors und seiner Herrschaftspraxis. Es ist dort schlicht nicht vorstellbar, jemals wieder unter der Kontrolle oder auch nur unter dem bestimmenden Einfluss Russlands leben zu müssen. Jeden Tag aufs Neue versendet sich über das russische Fernsehen das menschenverachtende Menschenbild der dortigen Machthaber und deren Geschichtsmythos von der Ukraine als legitimen Teil Russslands, versendet sich die totale Negation der Existenz einer unabhängigen Ukraine, ihrer Kultur und Lebensweise. Jeden Tag sendet Russland neben Raketen und Soldaten, seine Drohungen und seinen kolonialen Blick in der verrohten Sprache der dortigen Polit- und Fernsehgrößen.
Die Ukrainer*innen benötigen keinerlei Phantasie dafür, sich auszumalen, was im Land passiert, wenn Russland in der Ukraine triumphiert. Denn sie kennen das schon aus der Geschichte der Beziehungen zu Russland. Jede Familie kennt das über viele Generationen. Politische Morde, Säuberungen, Verschleppungen, Diktatur, Russifizierung.
Deshalb verteidigen sie sich kämpfend.
Man kann das kritisieren. Man kann sich wünschen oder auch fordern, die Ukraine solle in pazifistischer Tradition zivilen Ungehorsam und gewaltfreien Widerstand bei Besatzung üben, weil die auf lange Sicht, so die Hoffnung, auch erfolgreich sein können und weit weniger Menschenleben kosteten. Die dann angeführten Beispiele wie Gandhi in Indien, Mandela in Südafrika oder King in den Vereinigten Staaten sind ohne Zweifel tief beeindruckend und haben auch meine politische Sozialisation entscheidend mit geprägt.
Dies waren mindestens teilweise erfolgreiche Praxen der gewaltarmen Konfliktaustragung innerhalb von Gesellschaften und im Fall von Indien gegen die langjährige britische Kolonialmacht. Nur: Keine dieser Bewegungen entstand und war erfolgreich im Augenblick des Angriffskrieg eines benachtbarten Staates. Das allein spricht noch nicht gegen eine solche Strategie.
Nur müsste die in jedem Fall von einem angegriffenen Staat selbstbestimmt verfolgt werden und kann ihm nicht von aussen aufgenötigt werden. Dafür aber müssten Gesellschaften lange vor dem Ernstfall sich für genau diese Strategie im Falle eines Überfalls entschieden haben und sich entsprechend vorbereiten. Ob sie im Falle eines Überfalles erfolgreich sein könnte in dem Sinne, dass die Besatzer sich aufgrund der standhaften Weigerung weitester Teile der Bevölkerung mit der Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten, irgendwann entnervt zurückzögen, weil die Besatzung mehr kostet als sie nützt, wie lange sich ein solcher gewaltfreier Widerstand aufrechterhalten ließe, etc., muss unbeantwortet bleiben. Es gibt bisher kein historisches Beispiel.
Wofür es Beispiele gibt, ist die Ersetzung (Ermordung, Deportation ) verdächtiger Funktionseliten durch Russifizierung, was das Konzept der Nichtzusammenarbeit mit dem Aggressor vor dem konkreten historischen Hintergrund nicht erfolgversprechender erscheinen lässt.
In jedem Falle bleibt: Es steht einzig in der Abwägung des Angegriffenen, über die Art und das Maß der eigenen Verteidigung zu entscheiden.
Im Wesentlichen geht es in den derzeitigen Debatten aber nicht um Pazifismus, sondern um die Forderung, so schnell wie möglich auf dem Verhandlungswege zunächst einmal zu einem Waffenstillstand zu kommen und dafür intensiv Gespräche allen anzubieten, die dazu etwas beitragen können. Diese Forderung wird verknüpft mit der anderen Forderung eine „Eskalation der Waffenlieferungen“ einzustellen bzw. nicht zuzulassen.
Natürlich gibt es auch die Forderung, überhaupt keine Waffen zu liefern oder keine schweren Waffen zu liefern oder nur eindeutige Verteidigungswaffen zu liefern. Das Feld ist breit und etwas unübersichtlich.
Jede Verhandlung um einen Waffenstillstand müsste aber neben dem Schweigen der Waffen noch andere zwingende Festlegungen enthalten, soll ein Waffenstillstand mehr sein als ein taktische Kampfpause, die es beiden Seiten ermöglicht, sich militärisch und logistisch zu konsolidieren. Denn dann wäre ein Waffenstillstand nicht mehr als ein Teil des Krieges.
Ein Waffenstillstand müsste daher auch Festlegungen enthalten, die sicherstellen, dass genau diese Konsolidierung nicht stattfindet und keine Seite die Zeit nutzt, um die eigene Ausgangslage zur Weiterführung des Krieges zu verbessern. Sie müsste gleichzeitig Regelungen enthalten, die ebenso nachprüfbar festlegen, dass Russland eine solche Waffenruhe nicht dazu nutzt, sich in den besetzen Gebieten auch im nichtmilitärischen Bereich weiter zu konsolidieren.
Sind solche Festlegungen nicht zu erzielen und ihre Einhaltung zu kontrollieren, dürfte ein solcher Waffenstillstand für keine Seite derzeit eine akzeptable Option sein.
Solange ein solchermaßen konditionierter Waffenstillstand nicht ins Werk gesetzt werden konnte, führt Russland seinen Eroberungskrieg in der Ukraine unvermindert fort.
In dieser Situation ist die Frage der Waffenlieferungen, die wir voll verantwortlich treffen müssen, eine Entscheidende.
Denn dies dürfte auch den Gegnern weiterer Waffenlieferungen klar sein und sie werden es bedacht haben: Werden die Waffenlieferungen eingestellt oder auch nur reduziert, verringert sich die ukrainische Kampfkraft, wird Russland jeden militärtaktischen Vorteil sofort nutzen, um die Situation zu seinen Gunsten zu verändern, womit seine Bereitschaft, in Verhandlungen über einen Waffenstillstand einzutreten, sich verringern wird.
Die Einstellung oder Verringerung von Waffenlieferungen bedeutet unweigerlich eine entscheidende Kräfteverschiebung zugunsten Russlands. Sie setzt einseitig die Ukraine unter Druck, nicht aber Russland. Wahrscheinlicher ist, dass es Russland in diesem Fall sogar gelingen kann, einige seiner Kriegsziele tatsächlich zu erreichen und weite Teile der Ukraine zu annektieren.
Dass in der Ukraine dann Frieden einzöge, wenn auch unter teilweiser russischer Besatzung, könnte eine trügerische Hoffnung sein. Russland wird weitgehende Säuberungen veranlassen, die teilbesetzte Ukraine sich möglicherweise auf Strategien asymmetrischer Kriegführung einstellen und einen Partisanenkrieg weiterführen. Denn wie eingangs geschildert. Ein Leben unter russischer Herrschaft ist keine Option.
Selbst wenn es Russland gelänge dies zu verhindern. Es wäre kein Frieden, der einzieht, es wäre eine Gewaltherrschaft, eine völkerrechtswidrige Situation, die sich nicht heilen lässt und den Keim eines künftigen Krieges in sich trägt. Den Menschen in der Ukraine ist das taghell bewusst. Sie führen ihren Kampf auch deshalb. Denn ihre Kinder sollen diesen Kampf nicht erneut führen müssen.
Mitunter drängt sich die Frage auf, ob die Forderung nach Entziehung ausreichender, also dem Druck standhaltender, militärischer Unterstützung für die Ukraine bei Einigen nicht dem Kalkül geschuldet ist, die Ukraine in die Bereitschaft für einen Waffenstillstand zu nötigen, sie gleichermaßen zu ihrem „Glück“ zu zwingen. Manches liest sich, als handele es sich bei den Ukrainier*innen um eine eingebildete Nation, und dieser Krieg werden nur einer Einbildung wegen geführt. Die Ukraine müsse also nur zur Vernunft gebracht werden, wie ein größenwahnsinniges Kind, dem die Grenzen aufgezeigt gehören. Kein Wunder, dass Mütterchen Russland da die Geduld verliert. Wer den Konflikt so interpretieren sollte, dem sei tatsächlich nicht nur deshalb dringend eine Reise empfohlen.
Und nun, ein endloser Krieg mit unzähligen Toten bis einer nachgibt ? Das ist keine Aussicht und keine Strategie. Vielmehr muss diplomatisch selbstverständlich intensiv an Bündnissen gearbeitet werden, die Russland zum Einlenken bringen, müssen weitere Sanktionen seine Kampffähigkeit schwächen, muss auch öffentlich an Nachkriegsperspektiven gearbeitet werden. Diplomatie wird letztlich den Ausweg weisen müssen aus einer Situation, wo ein Krieg sich festfrisst. Je früher, desto besser.
Hinweis: Der Autor war Anfang Februar 2023 5 Tage in der westukrainischen Stadt Riwne. Der Bericht des Besuches kann nachgelesen werden unter folgendem Link:
https://www.berlin.de/ba-pankow/ueber-den-bezirk/patenschaft/artikel.1290138.php